Montag, 31. März 2014

Saudades

Wenn man Portugiesisch lernt, dann stösst man früher oder später auf saudades. Das Wort lässt sich wohl am besten übersetzen mit "vermissen" oder "fehlen". "Du fehlst mir/ich vermisse dich": Eu estou com saudades de você
Aber das Portugiesische beschreibt dabei das Gefühl an sich und nicht bloss die Handlung, so wie das andere Sprachen machen ("I miss you", "Te extraño"). Saudades ist das, was man dabei EMPFINDET, wenn man etwas vermisst, wenn einem jemand fehlt. Da gibt es wohl kein deutsches Pendant dazu, vielleicht am ehesten "Sehnsucht", aber auch das trifft es nicht ganz. Saudades ist und bleibt eine idiomatische Eigenheit des Portugiesischen. Kein Wunder: Leidenschaftlich und gefühlsbetont wie die Brasilianer sind, muss sich das wohl auch irgendwie in ihrer Sprache niederschlagen. 
Am Anfang meiner Reise hat mir mal jemand gesagt: Wenn du verstehst, wie saudades sich anfühlt, dann verstehst du auch die Brasilianer.
Und ja, tatsächlich, je näher das Ende meines viermonatigen Abenteuers rückt, desto mehr verstehe ich…

Meine letzten Tage in Brasilien verbringe ich in Fortaleza, der Hauptstadt des Bundesstaats Ceará, im Nordosten des Landes.
Ein Paradies für Surfer mit und ohne Segel, denn die Windverhältnisse sollen an Fortalezas Stränden besonders günstig sein (ich verstehe leider nichts davon, ich habe in meinem Leben nur eine einzige Surfstunde genommen und dabei literweise Salzwasser geschluckt, so dass ich diesen Sport wie auch die meisten anderen wieder aufgab). Aber ich komme nicht wegen der Wellen hierher, sondern erstens, weil hier mein Flug zurück nach Zürich geht und zweitens, weil ich hier eine Freundin wiedertreffen will, die ich in Recife kennengelernt hatte. Wir erinnern uns: Es ist die Brasilianerin, deren Handy im Karnevals-Wirrwarr geklaut wurde (jaja, gemeinsame Erlebnisse schweissen aneinander). Sie ist Ärztin und in Fortaleza aufgewachsen. Sie kennt die Stadt deshalb wie ihre Westentasche und weiss genau, wo eine Züri-Tussi noch ihre letzten brasilianischen Pflichtaufgaben erledigen kann: es geht also zum Cabelereiro (die Behandlung hiess ohne Scheiss Botox capilar, es ging aber ganz ohne Spritze und meine Haare waren hinterher auch nicht gelähmt, sondern schön gesund und glänzend), zur Depilação (habt ihr euch schon mal ohne Narkose am offenen Herzen operieren lassen? Nein? Ich auch nicht, aber so fühlt sich dieses Brazilian Waxing an!!!) und zu den schmackhaftesten und riesigsten Tapiocas meines Lebens (wie war das noch mit dem brasilianischen Bikini? Den kann ich jetzt aber ganz hinten im Schrank versorgen!).
Dazwischen trinken wir Cerveja und Caipirinha am Strand und fahren mit dem Boot der schönen Küste entlang und fotografieren den Sonnenuntergang, die Ärztin hat sich nämlich extra für mich freigenommen.
Aber wer nach Fortaleza geht, der muss auch nach Jericoacoara gehen. Ok, das klingt jetzt so, als läge dieses Dörfchen gleich nebenan, aber so ist das nicht. Vier Stunden mit dem Bus weiter nördlich und dann noch anderthalb Stunden auf so einer Art Lastwagen mit Plastiksitzen, denn der letzte Rest des Weges führt über Sand und den Strand entlang, das schafft kein herkömmlicher ÖV. Aber es sollte niemand mit Rückenproblemen oder Schleudertrauma auf diesen Laster steigen - obwohl, es kommt eigentlich nicht drauf an, denn wenn man die Leiden vorher nicht hatte, hat man sie eh hinterher, so sehr holpert und ruckelt es während der Fahrt.

Jericoacoara ist neben Pipa ein weiterer kleiner Hippie-Ort, aber diesen empfinde ich nun wirklich als magisch. Das ehemalige Fischerdorf liegt inmitten von Sanddünen und an einem malerischen Strand, es kommt mir ein bisschen vor wie eine Oase in der Wüste. Überhaupt wähnt man sich eher in der Sahara denn in Brasilien, denn man geht den ganzen Tag nur auf Sand.
Und natürlich ist auch hier alles total légère und alternativ, man trägt Batik-Klamotten, ist tätowiert, kifft und verkauft selbst gebastelte Schmuckstücke. Überall wimmelt es von streunenden Hunden aller Rassen (mein Liebling war der Dackel, dessen viel zu kurze Beine nun so gar nicht gemacht waren für den ganzen Sand), die die Gäste in den Restaurants mit den treusten Blicken anbetteln oder ausgelassen am Strand toben und sich dabei auch mal erschöpft in den Schatten eines Sonnenschirms legen, obwohl es dort eigentlich gar keinen Platz mehr gäbe.
Ausflüge macht man auch hier mit dem Buggy. So erreicht man die hübschen Binnenseen, die entstehen, wenn sich das Regenwasser in den Dünen sammelt. Das seichte Wasser dort ist perfekt, um sich auf einem Stuhl oder einer Hängematte hineinzusetzen und die Seele baumeln zu lassen.

Am Abend versammeln sich alle am Strand und steigen dort auf eine hohe Sanddüne, um den Sonnenuntergang zu beobachten. 

Ja, immer diese Sonnenuntergänge, ich weiss. In Brasilien sind sie halt einfach beliebt! Wo man auch hinkommt, es heisst immer: geh doch dorthin, von dort aus hast du den besten Blick auf den Sonnenuntergang. Und das machen dann auch alle und knipsen mit ihren Kameras und Smartphones drauflos, als ginge die Sonne kein weiteres Mal mehr unter. Es gibt ganze Touren, die sich nur um den Sonnenuntergang drehen, zu Land und zu Wasser. Der Sonnenuntergang wird hier inszeniert und zelebriert. Das merkte ich schon ganz am Anfang in Rio, am Strand von Ipanema. Dort klatschte die Menge jeden Abend, wenn die Sonne im Meer verschwunden war. Naja, ist ja auch eine grosse Leistung, die gewürdigt werden will.

Wie auch immer. Jericoacoara ist jedenfalls der perfekte Ort, um seine letzten Tage in Brasilien zu verbringen und beim pôr do sol so richtig tief in saudades zu versinken. 
Oh, und es gibt sehr nette Leute dort. Ich habe es nämlich fertiggebracht, mein nigelnagelneues iphone 5 zu verlieren, und nur Dank eines ehrlichen Finders musste ich nicht noch einmal die Polizei mit ihren schusssicheren Westen und meine Versicherung bemühen…

Tja, und so sehr ich mich auch dagegen sträube, der Tag kommt, an dem mein Flieger Richtung Schweiz startet. Die Ärztin begleitet mich zum Flughafen. Dort will ich deprimiert auf einem Sessel vor dem Gate in einer revista blättern, aber es kommt ganz anders.
Ich möchte gar nicht detailliert ausführen, was in meinen letzten zwei Stunden in Brasilien passiert. Ich habe mich ja schon genug über unendliche Schlangen vor Kassen und das Drehkreuz im Bus ausgelassen. Kurz: es ist einfach mal wieder ein Fall von jeito brasileiro. Ein "Sie-waren-zwar-kurz-in-Argentinien-aber-es-fehlt-der-Stempel-des-brasilianischen-Zolls-also-waren-Sie-drei-Wochen-zu-lange-im-Land-und-müssen-eine-Busse-bezahlen-aber-die-können-Sie-jetzt-grad-nicht-bezahlen-weil-wir-keine-Karten-akzeptieren-und-der-Bankomat-befindet-sich-leider-ausserhalb-der-Abflughalle-da-dürfen-Sie-alleine-nicht-mehr-raus-und-obwohl-hier-fünf-Angestellte-einfach-nur-rumstehen-und-gelangweilt-auf-ihrem-Handy-tippen-haben-wir-leider-zu-wenig-Personal-um-Sie-zur-Bank-zu-begleiten-und-oh-ihre-Freundin-ist-doch-tatsächlich-extra-nochmal-an-den-Flughafen-gekommen-und-hat-Ihnen-das-Geld-gebracht-aber-leider-ist-jetzt-die-Kasse-schon-zu"-Fall. 
Aber diesmal gebe ich nicht nach. Ich mache einen riesigen Aufstand und schimpfe und bezeichne alles als piada und incrível und schlage die Hände über dem Kopf zusammen und rolle mit den Augen und seufze EXTRA LAUT. Diesmal nicht, meine Lieben, diesmal gewinne ICH!! Bis zehn Minuten vor Abflug kämpfe ich um diesen doofen Stempel, denn ich bekommen muss, um Brasilien wieder legal betreten zu dürfen - und ICH SCHAFFE ES!!! Stolz, befriedigt und begleitet von zahlreichen Verwünschungen des Fortalezaschen Flughafenpersonals steige ich in meinen Flieger. STRIKE!!!!

Ja, ich verstehe jetzt die Bedeutung des Wortes, weiss, wie es sich anfühlt. Brasil, estou com saudades de você. Nein, Szenen wie die obige werden mir garantiert nicht fehlen, aber sonst alles. Meer, Strand, Samba, Forró, Carnaval, Capirinha, Açaí, Tapioca, Felicidade und vor allem meine familia brasileira und alle meine neuen Freunde, die ich hier kennenlernen durfte - und ohne die ich nur halb so viel erlebt hätte, nur halb so weit im Land gekommen wäre, nur halb so gut gegessen, getanzt und Portugiesisch gelernt und nur halb so viele Hindernissen gemeistert hätte. Estou com saudades de vocês, muito obrigada por tudo!!!

In Salvador da Bahia bin ich mal zu einer Art Priester des Candomblé gegangen (das ist nichts zum essen, das ist eine Religion), er hat mit mir das jogo de búzios gemacht, mir also sozusagen "die Muscheln geworfen". Unter anderem sah er dabei voraus, dass ich nach Brasilien zurückkehren würde, weil ich hier "noch etwas zu erledigen hätte".

Ich hoffe, Muscheln lügen nicht.





Sonntag, 23. März 2014

Ordem e progresso 4: A copa, pra quém?

"Merkt man denn schon etwas von der Vorfreude in Brasilien auf die Fussball-WM?" - mir wurde diese Frage ja schon so oft gestellt, und jetzt will ich sie endlich einmal beantworten:
Nö.

Überrascht euch das? 
Nun, ich weiss, Brasilianerinnen und Brasilianer kommen im Allgemeinen ja schon fussballbegeistert auf die Welt, das hab ich hier hautnah mitgekriegt (natürlich nicht alle, aber eine Tendenz ist schon zu spüren). Auf die Spiele freuen sich die meisten drum sicher auch. Aber eine WM ist eben nicht nur Fussball, sondern noch ganz viel anderes drumherum. 
Ich habe auf meiner Reise ja doch einige Austragungsorte der Copa 2014 besucht: Rio, Manaus, Salvador, Recife, Natal und Fortaleza. Jeder Brasilianerin und jedem Brasilianer auf meinem Weg habe ich die obige Einstiegsfrage gestellt, und nie, wirklich NIE hat sie jemand mit Ja beantwortet. "Vai ser uma bagunça", fand die Mehrheit, es werde ein Chaos geben. Brasilien sei alles andere als bereit für die WM. Und ab und zu wurden auch Augen gerollt und tiefe Seufzer ausgestossen: "Vou ficar em casa!", ich werde zu Hause bleiben.
Es ist ja jetzt auch nicht grad so, dass einem das Land die WM 2014 schon so richtig schmackhaft macht. Man darf sich nicht vorstellen, dass da überall schon Plakate hängen, so im Stil: "Im Juni ist die Copa! Das wird super!!". Es werden nirgends gratis Fussbälle verteilt, es wimmelt nicht von Ständen mit den National-Tenues, im Supermarkt sucht man vergeblich nach Copa-Schoggi, -Bier oder -Brot, die Stadions sind nicht festlich geschmückt - nope, sie sind ja noch nicht einmal fertig gebaut!
Und somit wären wir auch schon beim Grund, warum die Brasilianer noch nicht vor Vorfreude auf die WM ausflippen: Alles ist hier eine grosse Baustelle, sportlicher Grossanlass sei Dank!
Das fällt in Brasiliens Grossstädten wirklich auf, es wird überall gebaggert, gebohrt, geschaufelt, gemauert und gesperrt. Die Strassen werden ausgebessert, Gebäude verschönert oder ganz neu aus dem Boden gestampft, weitere Leitungen verlegt, U-Bahnnetze ausgebaut, Troittoire frisch gepflastert und Brückenpfeiler gestrichen.  Das Land soll im Juni in neuem Glanz erstrahlen, wenn dann Fussballbegeisterte und Journalisten aus aller Welt anreisen!
Sollte denn die Zeit dazu auch wirklich reichen.
Denn wenn man hier mit Einheimischen redet, dann lächeln sie nur spöttisch und sind überzeugt, NIEMALS werde bis zur WM alles fertig sein. Gut, wenn man selber ein bisschen die Augen aufmacht, dann versteht man diese Zweifel sehr gut. Man sieht´s ja schon in den Nachrichten: Immer mal wieder kracht irgendwo in Brasilien ein Stadion während des Neubaus oder der Renovation zusammen. Knapp drei Monate vor Anpfiff stehen auch viele geplante Gebäude und Zufahrtsstrassen noch nicht (ich bin ja keine Architektin, aber ist das nicht ein bisschen knapp bemessen?), der öffentliche Transport ist das pure Chaos (ich lasse mich jetzt nicht schon wieder über die schauderlichen Busse aus), die Eröffnung der U-Bahn in der Barra von Rio wurde schon einige Male verschoben (ok, die soll zwar auch erst für die Olympischen Spiele 2016 funktionieren, aber ich mein ja nur...) und wie die gemächlichen brasilianischen Kassiererinnen und Kassierer tausende von ausländischen Gästen bedienen wollen, ohne dass die Amok laufen, ist mir schleierhaft. Übrigens nicht nur mir, auch den Brasilianern selber.

Ok, man kann jetzt sagen: Ist doch gut, bauen sie alles neu und so, davon profitiert ja dann vor allem die Bevölkerung.
Stimmt schon, aber ich finde es tieftraurig, dass die brasilianische Regierung offenbar erst Geld, Hammer und Meisel in die Hand nimmt, wenn ein sportlicher Grossanlass im Land ansteht. Einfach so kommt sie nicht auf die Idee, dabei könnten die Bürger ja auch ohne Copa und Olympia von schnellerem ÖV und besseren Strassen profitieren. Aber sie sind es der Regierung offenbar nicht wert, der Sport und der internationale Besuch aber schon. Da würde ich mich als Brasilianer ehrlich gesagt auch ein bisschen verarscht fühlen. 
A copa, pra quém? Ja, für wen ist denn nun diese WM? Für das Land? Die Leute? Die Ausländer? Die Regierung? Das Image?

Dazu kommt, dass die ganze Bauerei natürlich auch erstmal wahnsinnig umständlich ist. Am deutlichsten zeigt sich das im Strassenverkehr: engarrafamento, aber immer und überall! Im Auto oder im Bus: es dauert immer viiiiieeeeeeel länger, von A nach B zu kommen, als das GPS oder der Fahrplan angeben (im Fall von meiner Busfahrt von Rio nach Bùzios grad doppelt so lang, ganze sechs Stunden anstatt drei). Am mühsamsten ist das natürlich für die Leute, die hier tagtäglich pendeln müssen. Vor allem, wenn Strassen, die gestern noch offen waren, heute plötzlich abgesperrt sind oder die Richtung wechseln, natürlich alles ohne Vorankündigung. Dann muss man sich erstmal seinen Weg neu suchen, das gleicht einer Tour durchs Labyrinth, und wenn man Pech hat, muss man die ganze Stadt zweimal umfahren oder so. Alles schon erlebt.
Im Juni während der Spiele werden dann viele Strassen für die Bewohner auch ganz geschlossen, zu Gunsten des Transports oder der Märsche der Fussballfans (viel Vergnügen dann auch, bei dieser Hitze stundenlang zum Stadion zu latschen, die Distanzen hier sind im Fall riiieeeessiiiiiiiggg!). 
Nicht zuletzt kostet Bauen ja auch viel Geld. Und an einer WM kann man sowieso absurde Preise verlangen, denn sie werden ja eh bezahlt. Das hat zur Folge, dass die Lebenskosten in vielen brasilianischen Städten deutlich gestiegen sind. Waren früher die Wohnungen rund um die Stadien gut erschwinglich, kosten sie heute bis zu zehnmal so viel. In der Communidade nebenan müssen die billigen, abbruchreifen Häuser neuen und hübscheren weichen (die Gringos sollen ja nicht abgeschreckt werden), doch natürlich sind die für die Bewohner dann nicht mehr bezahlbar. Und ihr glaubt, in der Favela in Rio Schnäppchen machen zu können? Vergesst es! Sogar als verwöhnt Züri-Tussi habe ich manchmal geschluckt, als ich an der Kasse stand. Und ich möchte darauf hinweisen, dass der brasilianische Mindestlohn 700 Reais beträgt, also keine 300 Franken...

Jaja, ich weiss schon, was einige von euch jetzt denken: Miriam, du kannst ja mit Fussball eh nichts anfangen, klar wetterst du gegen die WM!
Stimmt, ich interessiere mich nicht für Fussball. Ich würde die obigen Umstände aber auch kritisieren, wenn in Brasilien die internationalen Theater-Festspiele, die panamerikanischen Windhunde-Rennen oder ein weltweiter Coiffeur-Wettbewerb stattfinden würde. Ich bin sicher nicht gegen die Fussball-WM per se, es ist völlig egal, um was für einen Grossanlass es sich handelt. Das ganze Drumherum gibt einfach immer zu denken. Und in einigen Ländern mehr als in anderen.

Nichtsdestotrotz bin ich absolut sicher, dass die Copa 2014 ein riesen Spass werden wird, sobald die ersten Mannschaften auf dem Rasen stehen. Die Brasilianer können nämlich eines am besten: im Moment leben und allen Ärger hinter sich lassen. Wenn der Ball rollt, wird gefeiert! VAMOS!!


Freitag, 21. März 2014

De herói

Wir sahen uns also wieder, der Journalist und ich, am rodoviaria (Busbahnhof) in Recife, wo wir uns verabredet hatten, um gemeinsam Richtung Norden, nach João Pessoa zu fahren. Ok, er kam "als richtiger Brasilianer natürlich zu spät", wie er mir per SMS aus dem Taxi mitteilte. Jeito brasileiro! :-)

João Pessoa ist die Hauptstadt des Bundesstaats Paraiba, nicht besonders gross und rund zwei Stunden von Recife entfernt. Der Anfang unseres Aufenthalts verläuft schon mal harzig, denn es pisst. Nix mit Badehose, wir gehen ins Kino. "300 - A Ascensão de um Império", auf Portugiesisch. Aber ich habe kaum Mühe, den Film zu verstehen, denn wie schon im ersten Teil geht´s einfach nur um halb nackte, beinhart durchtrainierte Männer und Krieg. Diesmal gibt´s das Ganze aber noch in 3D, die Macher lassen das Blut deshalb noch höher spritzen.
Ansonsten ist João Pessoa auch eher etwas verschlafen. Ausser ein paar ganz netten Stränden (aber nach Fernando de Noronha ist man einfach unglaublich verwöhnt!) und einem hübschen historischen Zentrum, hat das Kaff eigentlich nicht viel zu bieten. Halt! Doch, es gibt da tatsächlich eine kleine Sensation: Jurandy. Das ist ein Musiker, der seit ungefähr 20 Jahren am Praia do Jacaré  (Krokodil-Strand, ich habe aber nur welche aus Plastik gesehen) jeden Sonnenuntergang mit seinem Saxophon und Ravels Bolero begleitet. Und mit jedem Sonnentuntergang, MEINE ich JEDEN! Jurandy gönnt sich offenbar nie Ferien, so wurde uns das jedenfalls gesagt. Und wenn er dann, ganz selten natürlich, mal krank ist, dann hat er eine Vertretung. Das heisst also, am Praia do Jacaré wird wirklich JEDER pôr do sol bespielt, was ich schon eine beträchtliche Leistung finde.
Aber das lockt natürlich auch dementsprechend viele Schaulustige an. Und darauf hat der Strand reagiert: es wimmelt nur so von lojas mit Souvenirs und typisch brasilianischen Fressständen mit pipoca und tapioca. Romantik ist also schon mal nicht, auch wenn´s um den Sonnenuntergang geht. Und man fährt am besten früh genug hin, wenn die Sonne noch hoch oben am Himmel steht, denn man muss sich schliesslich einen guten Platz für das Spektakel sichern. 
Der Journalist und ich setzen uns (eher zufällig zwar) in das Restaurant mit Veranda aufs Meer hinaus, das Jurandy auch gleich unter Vertrag hat. Dafür müssen wir aber natürlich auch etwas konsumieren, also gibt es Cola und überteuerten, frittierten queijo coalho. Auf der Veranda und allen anderen rundherum drängen sich die Menschen, ihre Kameras und Smartphones bereits gezückt. Die Spannung steigt! Mann kann den Sonnenuntergang leider nicht so gut sehen, weil dicke Wolken am Himmel hängen, aber zum Glück teilt uns wiederholt eine laute Frauenstimme ab Band mit, dass es jetzt dann gleich losgehen werde, und zwar gesponsert von Blablabla und Blublublu. Wir müssen ein bisschen lachen.

Ja, und dann legen die Streicher und Trommler los, der wohlbekannte Bolero erschallt aus allen Boxen am Strand. Es wird bedächtig gelauscht, die Hälse recken sich: Wo kommt denn jetzt dieser Typ?? Endlich setzt das lang ersehnte Saxophon ein, geblasen von Jurandy auf einem kleinen Fischerboot. Stolz und heroisch gleitet er an allen Schaulustigen vorbei und steht dabei wie ein Fels in der Brandung, keine Welle kann ihn erschüttern. Der Mann, der hinter ihm rudert, schafft es sogar, mit dem Boot Pirouetten zu drehen, damit auch alle Leute Jurandy mal von vorne zu Gesicht bekommen. Aber auch das meistert der Musiker ohne einzigen Holperer. Wir fragen später den Taxifahrer, ob Jurandy denn schon mal ins Wasser gefallen sei, und er meint: Nein, nein, nur fast. Erstaunlich!
Die Sonne geht unter und es wird zusammen mit dem sich steigernden Bolero immer dunkler. Wir haben schliesslich die Ehre, dass Jurandy genau auf unserer Veranda an Land geht, und immer noch Saxophon spielend andächtig durch die Menge schreitet. Die Leute flippen fast aus, der Mann muss für unzählige Fotos posieren, natürlich ohne aus dem Takt zu fallen. Aber nach 20 Jahren kriegt er das locker hin. 
Schliesslich ist der Spuk vorbei, und Jurandy wird fleissig beklatscht. Der Held geht ins nächste Restaurant, um dort die Leute mit seinem Saxophon zu beschallen.
Aber das Spektakel sollte erst noch richtig losgehen, verspricht jedenfalls die Stimme ab Band. Denn jetzt käme noch die Heilige Maria.
Es kommt dann aber wieder nur Jurandy auf seinem Fischerboot, dass hell beleuchtet in der Nacht auf dem Meer funkelt. Er spielt Ave Maria, und eine Frau singt live dazu, leider ungefähr so gut wie ich, also soso-lálá. Und am Schluss dann taucht sie wirklich auf, die Maria. Sie steigt plötzlich aus dem Boot empor, es sieht ein bisschen so aus, als hätte man ein Sackmesser aufgefaltet, oder so wie ein Jack in the Box, der an einer Sprungfeder herausschnellt, sobald man den Deckel von der Schachtel nimmt. Auch sie leuchtet wie der Stern von Bethlehem. Der Journalist und ich müssen wieder lachen, diesmal noch lauter.


Nach drei Tagen schliesslich trennen sich unsere Wege wieder. Er fährt zurück nach Hause nach Recife, für mich geht´s weiter nach Pipa. Und wie es der Zufall wieder will: sein Bus fährt genau zur selben Zeit wie meiner, einfach in die andere Richtung. 

Pipa war ursprünglich ein Fischerdorf und ist heute so etwas wie eine brasilianische Hippie-Hochburg. Hier sind Aussteiger, Surfer, Lebenskünstler und andere Freigeister aus aller Welt versammelt, offenbar gibt es nirgends sonst im Land soviele verschiedene Nationalitäten (ich höre aber ausser Portugiesisch nur Spanisch und einmal Englisch); der Ort wird in den Reisebüchern oft als "magisch" beschrieben. Das liegt aber wahrscheinlich nicht nur an den malerischen Stränden und Buchten, sondern vor allem auch daran, dass dort ein ziemlich gravierendes Drogenproblem herrscht. Das merkt man schnell, wenn man durch´s Hippie-Dorf mit seinen zahlreichen Designerkleider-, Biokost- und Handwerkskunst-Läden spaziert. An vielen Ecken sitzen ziemlich kaputte Gestalten, denen man nicht unbedingt alleine im Dunkeln begegnen möchte. Drugs, Sex and Rock ´n´Roll halt, free minds, free love und so...
Apropos dunkel: In Pipa steige ich zum ersten Mal aus dem Bus und habe noch keine Unterkunft reserviert. Ich denke, ich nehm einfach ein Taxi und lass mich irgendwohin fahren.
Ähä.
Weit und breit kein Taxi zu sehen. Ich muss also mit meinem Fünf-Tönner am Rücken (wieviele Paar Schuhe hab ich schon wieder dabei? Wieso haben sie sich eigentlich während meiner Brasilienreise noch vermehrt? Und wieso trage ich seit vier Monaten tagein, tagaus eh nur meine chinelos, die ich zu Weihnachten gekriegt habe??) und der nur leicht leichteren Version vor der Brust losmarschieren. Es ist Nacht, und ich habe schon nach zwei Minuten keine Lust mehr, mit dem schweren Gepäck durch die düsteren Strassen zu schleichen.  Das ist ja so, als würde sich ein Huhn dem Metzger schon auf der Schlachtbank präsentieren! Ich gehe also in die erstbeste Pousada und frage nach einem freien Zimmer zu angemessenem Preis. Das gibt es, und man zeigt es mir. Ich schmeisse erleichtert meine Rucksäcke aufs Bett und sage zu. Ich freue mich einfach, wieder einen Raum ganz für mich alleine zu haben, denn in João Pessoa waren der Journalist und ich je in einem Sechser-Schlag untergebracht (natürlich brasilianisch katholisch fein säuberlich nach Geschlechtern getrennt, damit auch ja niemand auf dumme Gedanken kommt), und obwohl es ganz lustig war mit den anderen Frauen, ich will einfach nicht die ganze Zeit Rücksicht nehmen müssen, fragen, ob ich jetzt duschen könne und mich auf Zehenspitzen reinschleichen, wenn ich die letzte bin, die schlafen geht (was nach einer weiteren, sehr caipirinha-lastigen Forró-Tanznacht der Fall war).
Ok, also wieder mal schön für mich allein in Pipa. Dummerweise merke ich aber erst nach dem Bezahlen, dass mein Zimmer gar kein Fenster hat. Also, nur ein kleines im Bad, aber sonst ist es ohne Kunstlicht stockfinster. Ja nu, bin ja eh nur zum Schlafen dort, und dann ist dunkel ja auch ganz angemessen...

Das Aufregendste, das mir in Pipa passiert, ist eine überraschende Flut. Man kann nämlich sehr weit den Strand entlangspazieren, aber eben nur bei Ebbe. Doch was habe ich schon für eine Ahnung von den Gezeiten? Jedenfalls will ich zurück zu meiner Pousada laufen, da merke ich, dass der halbe Strand schon unter Wasser steht. Aber ich denke, tranquilo, vai dar, das schaff ich schon noch, und klettere todesmutig über die Felsen, die Pipas Strände in verschiedene Abschnitte unterteilen. 
Nur, das Wasser steigt wirklich schnell, und ich rutsche auf den glitschigen Steinen immer wieder aus - wenn ich es überhaupt schaffe, auf sie draufzukommen. Die Wellen werfen mich hin und her, und ehe ich mich versehe, steh ich bis zum bunda im Wasser. Ich kann auch nicht mehr sehen, wo ich drauftrete, und das tut manchmal ganz schön weh. 
Zum Glück kommt gerade ein Brasilianer des Weges, der sich sehr viel geschickter über die Felsen zu bewegen weiss, ja, wie eine junge Gämse von Stein zu Stein hüpft und das erst noch barfuss. Er bleibt stehen, als er sieht, wie ich zu kämpfen habe, aber natürlich will ich mir keine Blösse geben und tue so, als wäre ich ganz ruhig, alles voll easy, amigo, mach ich jeden Tag so, bei Flut über Felsen kraxeln, nenhum problema. Aber der Mann glaubt mir nicht wirklich, zieht mich an der Hand aus dem Wasser und deutet mir einen einfacheren, trockeneren Weg aus der Gischt heraus. Insgeheim bin ich saufroh, er hat mich sicher vor dem Ertrinken gerettet, aber mein Stolz lässt nicht zu, ihm meine Erleichterung zu zeigen, also lächle ich meinen Helden nur mild an und hauche ein "obrigada". Züri-Tussi halt!

Aber das Leben gibt einem ja immer noch eine zweite Chance, und so kann ich mich beim Schicksal bald revanchieren. Nach zwei Tagen in Pipa fahre ich nämlich weiter nördlich, nach Natal. Die Hauptstadt von Rio Grande do Norte ist bekannt für ihre Sanddünen. Die nur anzukucken, ist aber ziemlich langweilig. Deshalb entscheide ich mich für eine Buggy-Tour (die Brasilianer sprechen das übrigens als "Buugi" aus, mein zweitliebstes Wort nach "Feisibuki", Facebook :-)). Allerdings nur widerwillig, denn erstens finde ich, dass diese Strandkarren ökologischer Blödsinn sind, weil sie alles plattwalzen und die Umwelt verpesten. Und zweitens macht das einfach jeder Tourist hierein Fakt, der mich ja bekannterweise immer gleich auf Abstand zwingt. Aber naja, viele andere Möglichkeiten habe ich nicht, und weil ich ja mitreden will, setze ich mich zusammen mit drei brasilianischen Touristen (einer Frau aus Rio und einem frischverheirateten Pärchen im lua de mel aus Campinas) und einem Fahrer in so einen Buggy.
Und leider muss ich gestehen: das macht ganz schön Spass!! Und zwar vor allem, weil man weiss, dass das im eigenen Land verboten wäre (wohl zurecht)! Volle Pulle über den Sand, natürlich nicht angeschnallt, und meistens auch noch stehend und sich am Dach festkrallend, das ist pures Adrenalin!! Wir kreischen und jubeln und hoffen, dass der Fahrer nie eine Vollbremsung hinlegen muss, denn das würde unseren sicheren Tod bedeuten.
Es ist übrigens auch keine gute Idee, sich noch zwei Minuten vor der Spritztour mit Sonnencrème einzureiben. Sich mit glitschigen Händen bei ich weiss nicht wie vielen KmH auf einer Achterbahn festzuhalten, gestaltet sich nämlich als unheimlich schwierig! Zum Glück habe ich aber seit meinen zwei Monaten stehend Pendeln in Rios Stadtbussen sehr gut trainierte Hand- und Wadenmuskeln...
Anyway, ich bin etwas abgedriftet, disculpem. Also, zurück zum Schicksal und so.
Es begibt sich also, dass auf dieser Buggy-Tour auch ein Besuch in Natals Aquarium ansteht. Ist jetzt nicht so spektakulär, vor allem habe ich mich gefragt, was AFFEN in einem AQUARIUM zu suchen haben (keine Angst, sie waren in einem Käfig, nicht im Wasser!).
Jedenfalls, als ich in Richtung Ausgang schreite, wundere ich mich plötzlich, warum es im dunklen Gang so viel Nebel hat. Und wieso brennt da eine Fackel in der Ecke? Ein bisschen Stimmung zum Ende? Geisterbahn?
Nein, da steht doch tatsächlich ein Ventilator lichterloh in Flammen, direkt über dem Ausgang! Ich stutze: Ist das jetzt wirklich noch niemandem aufgefallen??
Ich gehe noch mal zurück ins Aquarium und dort zum ersten Angestellten, der mir über den Weg läuft.
"Com licença, mas o ventilador ta queimando." Ok, ich gebe zu, das portugiesische Wort für "brennen" fällt mir nicht sofort ein, ich benütze deshalb eine ad hoc-Eigenkreation.
"Oi?"
"Esse ventilador alí. QUEIMANDO!" Ich erinnere mich wieder, aber ich glaube, die Affen im Käfig nebenan verstehen mich noch vor den Menschen, denn sie hängen sich plötzlich an die Gitterstäbe und beginnen hysterisch zu kreischen (echt, jetzt!). Ausserdem schwebt uns eine dichte Rauchschwade entgegen.
Und da rennt der Mann auch schon los, und ich hinterher, um gerade noch mitansehen zu können, wie das brennende Ding an der Wand explodiert und auf den Boden knallt. Den Flammen wird mit einem Feuerlöscher der Garaus gemacht, und ich verlasse das Gebäude durch den Eingang, um nicht ersticken zu müssen.

Ja, gut, es war jetzt nicht sooooo dramatisch, aber ich bin trotzdem ein bisschen stolz, habe ich einige Hundert Fische, Schildkröten, Schlangen, Echsen, Pinguine, einen grossen Hai, Affen und natürlich auch ein paar Menschen vor dem sicheren Feuertod bewahrt. Jedenfalls stelle ich mir das so vor in meiner Fantasie...
Der alarmierte Aquariums-Angestellte bedankt sich nach dem grossen Durcheinander denn schliesslich auch angemessen bei mir, der Heldin, so rasch beim Vorbeigehen: "Obrigado, viu?".
Ich mache eine gespielt coole Geste mit der Hand, so als sei das Ganze für mich gar nichts Besonders gewesen. "De nada."


Sonntag, 16. März 2014

Coincidências no paraíso

Es gibt da so ein Sprichwort in Brasilien: Wenn man stirbt kommt man ins Paradies, nach Fernando de Noronha. Grund genug für mich, diesen Ort zu besuchen, denn das klingt nach optimaler Erholung nach dem Carnavals-Stress. Und man hat mir Haie und Schildkröten in Aussicht gestellt - I´m in!!!

Fernando de Noronha ist eine Inselgruppe, und liegt eine Flugstunde von Recife entfernt, gehört also noch zum Bundesstaat Pernambuco. 21 Inseln zählt sie insgesamt, aber nur die grösste ist bewohnt, rund 4000 Menschen leben da. Die Unesco hat sie auf ihre Liste der Weltnaturerben aufgenommen. Brasilien ist also sehr darauf bedacht, die insgesamt 26 km2 so gut es geht zu erhalten. Deshalb wird der Tourismus auf Fernando de Noronha auch reguliert, das heisst, die Zahl der Besucher beschränkt. Ebenfalls deren Aufenthaltsdauer. Das merkt man schon bei der Einreise am Flughafen, denn dort wird man noch vor der Gepäckausgabe erst mal zur Kasse gebeten. Für die Tage, die man auf der Insel bleibt, muss man eine Umweltsteuer bezahlen. Je länger der Aufenthalt, desto teurer also. Aber ich bezahle ja gerne für das Paradies (muss das allerdings auf meine Abreise verschieben, denn der Kreditkartenleser funktioniert gerad enicht).

Überhaupt muss man auf Fernando de Noronha ein gut gefülltes Portemonnaie mitnehmen (und zwar mit Bargeld, Karten funktionieren hier tatsächlich oft nicht). Die Unterkünfte sind relativ teuer, man findet auch keine schäbigen Hostels mit 10er-Schlägen oder so. Geht man im klitzekleinen Supermarkt einkaufen, staunt man ebenfalls über die stolzen Preise, also besser den Deo, die Sonnencrème, und am besten auch gleich noch ein paar Guetzli und Chips schon selber mitbringen. Und bevor man überhaupt loslegen kann mit dem Entdecken der Insel, muss man sich auch noch einen Eintritt für den Nationalpark besorgen, mit ganz schön happigen Preisen.
Beim Konsum von Wasser und Strom hingegen ist Sparsamkeit angesagt, denn davon gibt´s dort nicht zuviel. Dafür hat´s gratis wifi für alle - wenn es denn funktionieren würde. Aber mal kurz Fotos vom Tauchausflug verschicken oder so kann man sich hier abschminken, genauso wie sämtliche Social-Media-Plattformen und Mail-Accounts. Das muss man alles verschieben, bis man wieder auf dem Festland ist.

Aber der Aufwand und die Mühen lohnen sich also definitiv! Denn Fernando de Noronha ist tatsächlich paradiesisch pra caramba! Die wunderschönsten Strände, das klarste, türkisblaue Wasser, atemberaubende Sonnenuntergänge und viel unberührte Natur - man wähnt sich fast in einem gefotoshoppten Ferienkatalog. Aber es ist alles echt!
Also, ab ins Wasser! Ans Schnorcheln an der Praia do Sueste habe ich hohe Ansprüche: wehe, es kommt kein Hai und keine Schildkröte vorbei! Aber ich werde nicht enttäuscht, denn die Haie warten schon am Strand auf mich, als ich mir in Taucherbrille, Schwimmweste (leider Vorschrift hier) und Flossen meinen Weg ins Wasser bahne (rückwärts, anders kann man sich in diesen Flossen ja nicht bewegen, wenn man nicht alle zwei Meter auf die Fresse fallen will). Ok, ich gebe zu, die Raubfische sind klein, dafür aber in Gruppen unterwegs, und ich bin sicher: auch die Kleinen haben scharfe Zähne!
  
Kaum paddle ich los und bestaune die Unterwasserwelt, da gleitet schon ein grösseres Exemplar (die Mama??) unter mir vorbei. Das macht ziemlich Eindruck! Ich weiss nicht, aber Haie sehen irgendwie fies aus, deswegen faszinieren sie mich wohl so. Fies und elegant. Würde sich dieses Viech für mich interessieren, könnte das sehr blutig enden, für mich. 
Aber ich und alle anderen Schnorchler sind nicht von Interesse für die Haie hier. Wahrscheinlich haben sie eh schon zu viele von uns gesehen. Und sind genervt ab dem ewigen, hysterischen Geschrei ("Tubarão!!!! Olha ki, TUBARÃÃÃÃOOOOOO!!!!!!!!!!!!!!"), was ich sehr gut verstehen kann, denn auch mit dem Kopf unter Wasser hört man das Gekreische und es geht einem wirklich auf den Sack.
So, Haie abgehakt, jetzt bitte Schildkröten ("TARTARUUUUUUGGGAAAAAAAAAAAA!!!!!!!!!!!!!")! Jep, ich habe Glück: schon bald nach dem Hai schwimmt mir so eine entgegen! 
Man hat uns ja vor dem Schnorcheln angewiesen, bloss nichts unter Wasser zu berühren, keine Tiere, keine Korallen, keine Pflanzen. Ich gehe also immer auf respektvollen Abstand. Die Haie halten sich auch an diese Regel, aber die Schildkröte macht mir gleich von Anfang an klar: "Embora você, jetzt komme ich!" Ich muss ihr tatsächlich ein bisschen ausweichen, damit wir nicht auf Kollisionskurs kommen, und beim Kreuzen glotzt sie mich mit ihrem Schlafzimmerblick triumpfierend an. 
Natürlich behalte ich meinen "Fund" für mich, denn ich will die anderen Schnorchler nicht herlocken, sondern die Schildkröte schön allein für mich geniessen. Ich sehe noch einige weitere, auch andere Haie und viele bunte Fische, grosse und kleine, schöne und hässliche. Am liebsten sind mir so kleine gestreifte, die einem immer direkt vor die Taucherbrille schwimmen und in die Augen sehen. Ich weiss nicht genau, was sie damit bezwecken.

Ich versuche, mich beim Schnorcheln noch ein bisschen mehr herauszufordern, und gehe deshalb auf ein Schiff. Das zieht die Schnorchler hinter sich her. Ein wirklich angenehmes Gefühl, so richtig leicht und schwerelos - ausser man ist so doof wie ich und zieht einen trägerlosen Bikini an. Ganz toll, die ganze halbe Stunde im Wasser bin ich damit beschäftigt, mich mit der einen Hand am Seil festzukrallen und mit der anderen meine Brüste zu bedecken, denn mein Oberteil rutscht beim Ziehen bis hinunter zum Bauchnabel. Und ich kann es noch so oft wieder in Position bringen, es will einfach nicht bleiben.
Klar, ihr denkt jetzt: Was soll´s, schnorchelst du halt oben ohne, sieht doch keiner im Wasser. Ähm, eben doch, man hängt zu sechst an den Seilen, und JEDER hat eine Taucherbrille auf, t´endendeu? Zu meinem grossen Glück hatte der Typ grad neben mir noch eine Unterwasserkamera mit dabei, danke aber auch.... 
Ich sehe bei diesem Schnorchelgang also leider nichts anderes, als meine Hand vor meiner Brust, und ich bin ganz schön angepisst, als mir die anderen nachher wieder von Schildkröten und Haien erzählen. Nur die Horde Delphine, die an uns vorbeflitzt, als ich mich auf dem Oberdeck sonne, kann mich noch trösten. Und sie kuriert mein Trauma vom Amazonas, denn anders als die hässlichen Fluss-Delphine sind die hier richtige, hübsche Flipper!

Ausser Tauchen, Schnorcheln, Schwimmen, in der Sonne liegen und die Schönheit der Natur bestaunen, kann man auf Fernando de Noronha nicht viel anderes machen. Wer trotzdem nicht früh ins Bett gehen will, hat zwei Optionen: die Bar do Cachorro (ich hab dort aber nur Katzen gesehen, sowohl zwei- als auch vierbeinige) oder so eine Pizzeria mit Tanzfläche grad neben der Kirche (am Sonntag wird zuerst brav die Messe abgewartet, bevor es losgeht). An beiden Orten spielen fast jeden Abend Live-Bands, natürlich meistens Forró, der für diese Region typische Musikstil.
Und ich habe Gesellschaft: zwei Brasilianer Ende 20. Wir wohnen alle drei in derselben Pousada. Den einen, ich nenne ihn den Sänger, weil er auf Fernando de Noronha öfters zu Mikrofon und Gitarre greift und das SEHR gut, lerne ich erst dort kennen. Den anderen bereits im Flugzeug. Er sitzt nämlich neben mir, aber ehrlich gesagt, reden wir nichts miteinander. Ich bin irgendwie müde und lasch nach dem ganzen Carnaval, und mache ihm drum grad von Anfang an klar, dass ich nicht zum Plaudern zu haben bin, indem ich meine revista aus dem Rucksack ziehe und mich demonstrativ in einen Text vertiefe.
Wir treffen uns dann wieder im Bus vom Flughafen zum Hotel. Und jetzt wird´s langsam seltsam, denn eigentlich habe ich eine andere Unterkunft gebucht als er, aber als ich dort ankomme, will man plötzlich nichts mehr wissen von meiner Reservation. Kurzerhand werde ich umgeteilt, und zwar in die selbe Pousada wie mein Sitznachbar im Flugzeug. Und natürlich kriege ich auch noch das Zimmer genau neben ihm. Und buche die selbe Schnorcheltour am selben Tag wie er.
Wir sind uns beide langsam unheimlich und beginnen, uns gegenseitig auszufragen. Nun, dabei kommt raus, dass sowohl er als auch ich Journalisten sind. Ich frage ihn, wo er denn arbeite, und er: ""Bei dem Magazin, das du dir im Flugzeug angekuckt hast. Du hast meinen Artikel gelesen."
Ok, wir machen also das Beste draus und verbringen unsere Zeit auf Fernando de Noronha gemeinsam (offenbar können wir uns gar nicht aus dem Weg gehen!), die Nächte eben auch noch zusammen mit dem Sänger. 

In der Bar do Cachorro und in der Pizzeria wird fleissig getanzt. Ich bin praktisch die einzige Gringa, es gibt also kein Entkommen. Meine brasilianischen Begleiter führen mich in die Kunst des Forró ein. Ich stelle mich einigermassen an, sie loben mich sogar sehr, aber wahrscheinlich auch nur, um freundlich zu sein. Ich falle regelmässig aus dem Takt und schaue neidisch zu, wie die brasilianischen Tanzpaare neben mir total elegant und synchron übers Parkett gleiten und so ganz nebenbei auch noch schnell ein paar spontane Drehungen und komplizierte Figuren hinkriegen. Ich wimmle jeden anderen Mann ab, der mich zum Tanz auffordert, aus Angst, mich zu blamieren. Meine neuen brasilianischen Freunde hingegen sind selber schuld.

Ein anderes Hobby von uns dreien ist das gute Essen, und das gibt´s auf Fernando de Noronha zu Hauf. Ok, ich muss zugeben, ich lasse mich vom Sänger und dem Journalisten anstecken, denn ich selber bin nun wirklich kein Gourmet. Ich bin mit dem schäbigen Tapioca-Stand um die Ecke schon wunschlos glücklich (meine Favoriten sind queijo coalho und leite condensado, hmmmm!), aber sie beide bevorzugen etwas edlere Restaurants mit brasilianischer Sterne-Küche. Ich lerne auf diese Weise sehr viel neue typische Lebensmittel hier kennen, dauernd stellen die beiden moços sicher, dass ich kulinarisch auch ja nichts verpasse ("Já experimentou blablabla? Und blublublu, schon mal gehört? Das musst du unbedingt probieren, das ist so gross und blau und wächst im Regenwald...")
Ich bin ein bisschen traurig, als ich Fernando de Noronha nach vier Tagen wieder verlasse. Es gefällt mir nämlich sehr gut im Paradies. Wenn so der Tod aussieht, dann habe ich gegen das Sterben nichts einzuwenden!
Meine beiden Begleiter bleiben noch etwas länger auf der Insel, ich muss also Abschied nehmen. Aber den Journalisten sehe ich bald wieder, denn wie könnte es anders sein, stimmt zufällig auch unser nächstes Reiseziel überein, João Pessoa. Wir beschliessen also, auch dieses Abenteuer gemeinsam zu wagen.

Mittwoch, 12. März 2014

Ordem e progresso 3: Um thriller brasileiro

Hatte ich mich nicht erst grad neulich darüber gefreut, dass mir auf meiner Brasilien-Reise bis jetzt noch nichts Unangenehmes passiert ist, ausser ein paar undurchsichtige Hotel-Reservationen und ein Jahrhundert-Sonnenbrand? 
Hätte ich mal lieber schön den Mund gehalten!! Denn das Schicksal hatte mich wohl gehört und entschieden, mir eine Lektion zu erteilen. Deshalb folgt  hier Teil 3 meiner allseits beliebten Reihe: "Was nicht so toll ist in Brasilien" - allerdings möchte ich vorausschicken: das folgende Beispiel hätte mir gerade so gut zu Hause im Kreis 4 passieren können und hat nichts mit dem sistema brasileiro zu tun..
Das Leben kann wirklich fies sein, erst serviert es dir alle erdenklichen, leckeren Süssigkeiten auf dem Silbertablett (ich war auf Fernando de Noronha, im PARADIES, aber dazu das nächste Mal), und wenn du dich so richtig sattgefressen hast, haut es dir mit der Stahlkeule auf den Kopf.
Ich kehre also von der Super-Insel zurück nach Recife, glücklich und zufrieden. Ich wohne wieder im Haus der lieb-verrückten Brasilianerin, diesmal bin ich allein in einem Zimmer. So morgens um 1, nach einem Besuch im Kino (ich musste mir ja den Oscar-Gewinner mal anschauen, 12 ANOS DE ESCRAVIDAO, meu Deus, ich musste so weinen!), gehe ich ins Bad grad nebenan und lasse dabei die Zimmertüre offen (ERROR!!!!). Ich putze mir die Zähne und so, und kehre nach 10 Minuten zurück. Totmüde will ich schlafen und lege mich ins Bett. Oh, noch schnell den Wecker stellen auf meinem iphone. 
Äh, mein iphone?
Äh, Moment, und meine Digicam, die doch grad noch daneben auf dem Tisch lag? Mit all meinen Fotos der letzten drei Monate?
WEG!!!
Ganz toll!! Da hat doch jemand tatsächlich meine Pinkelpause ausgenützt und schnell mein gesamtes elektronisches Arsenal geklaut!!!! Und ich hatte im Bad noch gehört, wie jemand im Haus umherging, aber ich dachte, es sei einfach ein anderer Bewohner, der nach Hause gekommen war. Schön blöd!!!
Jetzt muss ich noch mehr weinen als nach dem Sklaven-Film.

Nach dem ersten Schock renne ich wie von der Tarantel gestochen durchs Haus und suche alles ab. Ich renne auch auf die Strasse, aber da ist nichts und niemand. Ich habe plötzlich Panik, ich könnte allein in dem riesigen Haus sein, und mache überall Licht und klopfe an alle Türen. Ein Mann mittleren Alters kommt aus einem Zimmer, ein Brasilianer auf Geschäftsreise. Ich erzähle ihm aufgebracht, was passiert ist, und er staunt nicht schlecht, denn offenbar war nur einige Stunden zuvor ein Pärchen im Haus ebenfalls um seine Kameras erleichtert worden. 
Ok, das kann nicht mit rechten Dingen zugehen! Ich und der Mann beschliessen, auf dem Sofa direkt beim Hauseingang Wache zu halten. Es soll niemand hinein oder hinaus!
Wir harren also aus, bewaffnet mit einer Flasche Mückenspray, Stunden um Stunden. Alles bleibt ruhig.

Am Morgen können wir schliesslich endlich die Hausbesitzerin erreichen, sie fährt sofort her, noch mit dem Kissenabdruck im Gesicht und einem Teller Frühstücks-Tapioca in der Hand.Sie ruft erneut die Polizei, denn die war schon nach dem Raub im Zimmer des Pärchens angerückt.
Es kommen zwei Polizisten, aber so richtig in Vollmontur, Springerstiefel und schusssichere Weste, jetzt ohne Scheiss! Hätte ich noch ein Handy oder eine Kamera gehabt, ich hätte ein Foto geschossen!
Ich muss die ganze Geschichte nochmals von vorne erzählen, und alles wird protokolliert. Ich lasse auch durchblicken, dass ich meine Mitbewohner der Tat verdächtige, denn ehrlich gesagt: andere haben keinen Zutritt zum Haus, und eingebrochen wurde ja nicht! Und ausserdem: würde tatsächlich ein Fremder draussen vor der Tür warten, morgens um 1, bis ich ins Bad gehe und dann in mein Zimmer huschen und eine billige Kamera und ein iphone stehlen, das sowieso mit einem Code gesperrt ist? Wohl eher nicht!
Auch die Polizisten machen klar: das war kein Einbruch, das war einer der Gäste inhouse. Sie durchsuchen alle Zimmer, alle öffnen bereitwillig ihre Türen, Schränke, Koffer und Rucksäcke.
Nichts!
Ich weiss nicht, soll ich enttäuscht sein oder mich freuen, dass sich keiner meiner sehr netten Mitbewohner als gemeiner Dieb entpuppte...?

Die Polizei geht wieder, nicht ohne vorher noch mit mir geflirtet zu haben ("De onde você é? Ta sozinha aqui no Brasil? Já fez amigos? Tchau, Miriam!"). Danach sitzen die Hausbesitzerin und sämtliche ihrer Gäste zusammen auf dem Sofa.
Es ist eine Szene wie aus einem Film, einem Krimi, indem es darum geht, herauszufinden, wer der Mörder war. TATORT. DAS SCHWEIGEN DER LÄMMER. DIE DREI FRAGEZEICHEN. DER FALL VON OJ SIMPSON. AKTE XY UNGELÖST.
Natürlich gibt sich jeder im Haus betroffen und präsentiert sein Alibi. Aber immer, wenn einer mal kurz den Raum verlässt, tuscheln die anderen über ihn ("Eu acho que foi ele! Ele é estranho!"). Jeder verdächtigt jeden, es ist eine seltsame, unangenehme Situation. Aber zugegeben: es könnte tatsächlich jeder gewesen sein, so leid es mir auch tut..
Der Mann, der mit mir auf dem Sofa ausharrte (vielleicht war das gar keine Freundlichkeit, sondern ein Vertuschungsmanöver?).
Der sehr aufmerksame, freundliche, junge Brasilianer, der für einen neuen Job nach Recife gezogen war, und mich mit allerlei Sehenswürdigkeiten in der Stadt aufzumuntern versuchte (manchmal sind ja grad die allerliebsten Personen eigentlich die Schrecklichsten! Vielleicht ist er ja schizophren?? So wie der Typ in PSYCHO!!).
Das blutjunge, brasilianische Pärchen im Zimmer neben meinem (sie wirken total unschuldig, ihre Babyfaces will man den ganzen Tag tätscheln, aber vielleicht ist das einfach ihr Vorteil, den sie schamlos auszunützen verstehen??).
Wie auch immer: mein iphone ist weg, und alle meine Fotos auch (zum Glück habe ich ein paar auf diesen Blog getan, und zum Glück macht mein Handy automatisch Backups). Der finanzielle Verlust interessiert mich nicht die Bohne, aber der emotionale schmerzt tüchtig. Ich bin einen Tag lang depressiv.
Dann raffe ich mich auf und fahre in ein Einkaufszentrum in Recife. Dort leiste ich mir ein neues iphone (wenn schon, denn schon, aber die Preise hier, CARAMBA!!). Ich bin schon ein bisschen brasilianisch unverschämt geworden und versuche, beim Verkäufer einen disconto zu erreichen, aber leider ohne Erfolg. 
Also, gut, ich kaufe (ein pinkes, zur Feier des Tages!). 
Ich muss ewig warten, bis mir der Verkäufer das neue iphone aus dem Lager bringt. Dann gibt es noch eine grosse Diskussion mit den fünf anderen Verkäufern im Laden, weil ich ja keine Brasilianerin bin und deshalb keine CPF besitze, so eine Art Versicherungsnummer hier, die man echt ÜBERALL angeben muss. Kann die Gringa sich jetzt hier einfach so ein Handy kaufen oder doch nicht? Zeig mal den Pass. Ok, wir rufen mal noch den Chef an. Ja, er gibt grünes Licht.
Ich zahle. Der Verkäufer packt mein neues iphone sorgfältig aus und zeigt mir das sämtliche Zubehör. Dann verpackt er alles wieder schön an seinen Platz, natürlich muito devagar, und will das ganze am Schluss auch wieder zukleben. Ich verliere die Geduld: "Senhor, ta bom, obrigada!", nehme mein sacola und gehe zum nächsten Laden eines Telekommunikation-Anbieters. Dort muss ich eine Nummer ziehen und wieder warten.
Und warten.
Und warten.
Meine Laune verschlechtert sich zunehmends. "Mas demora!", beschwere ich mich bei einem Verkäufer, der einfach dort ist, aber eigentlich nichts macht. Er kriegt ein bisschen Angst, und tatsächlich bin ich dann die nächste an der Reihe.
Als Ausländerin kann ich nur einen Prepaid-Vertrag machen, was mir aber recht ist. Der Angestellte tippt unendlich lang in seinen Computer. Ich muss wieder meinen Pass zeigen. Er runzelt die Stirn. Plötzlich stehen sie zu dritt über dem Dokument, ratlos.
"O que é o problema?", frage ich.
"Wir finden den Namen deiner Mutter nicht."
"Wie bitte?"
"A sua mãe."
"Ta brincando? Ihr braucht für meinen Handy-Vertrag meine Mutter??!!" Der ganze Laden lacht. Hier in Brasilien muss man aber auch echt überall seine Eltern angeben, beim Einchecken am Flughafen übrigens auch schon. Was macht man denn, wenn man keine Verwandten hat??

Wie auch immer. Endlich kann ich zur Kasse und meinen neuen iphone-Chip mit meiner brasilianischen Telefonnummer bezahlen (aber erst nachdem ich den beiden Frauen hinter der Theke klar gemacht habe, dass ich mich jetzt schon fast zwei Stunden im Laden befinde und ich nicht verstehe, warum sie zu zweit an einer Rechnung arbeiten und ich deshalb erneut warten muss! Ja, die Züri-Tussi kann ein BIEST sein!!).

Ok, so ist das also. Neues Handy (finanziert hoffentlich meine Versicherung), aber dafür kein Material für die grosse Standard-Diashow, mit der ich meine Freunde und Familie nach meiner Rückkehr in die Schweiz stundenlang langweilen wollte (ok, to brincando, das hatte ich jetzt nicht wirklich vor :-)).
Meine brasilianischen Freunde sind schockiert über mein Erlebnis und schämen sich sogar. Die Hausbesitzerin will mich sogar gratis bei sich wohnen lassen, so als ""Entschädigung". Aber dazu gibt es keinen Grund. So ein Raub ist ja schliesslich nichts typisch brasilianisches, das passiert überall auf der Welt, nicht selten auch in Zürich. Es ist nur fies, wenn es einem trifft, wenn man grad auf Reisen ist und eigentlich glücklich.
Aber so ist das Leben. Zuckerbrot und Peitsche. Die besten Bilder sind eh die Erinnerungen. Und alle meine Erlebnisse und Bekanntschaften hier kann mir auch der dreisteste Räuber nicht nehmen.

Und wisst ihr was? Ich kann zwar nicht ohne iphone sein. Aber so ohne Kamera fühle ich mich plötlich viel freier. Immer dieser Stress mit dem Fotos machen!! Hab ich die Kamera dabei? Stimmt das Licht? Wen soll ich fragen, um ein Bild von mir zu schiessen? Ist es gut geworden?

Das ist jetzt vorbei. Ihr seht, ich habe ihn schon ein bisschen, den jeito brasileira. Sich nur nie die Stimmung vermiesen lassen! :-)


Mittwoch, 5. März 2014

VIVA A FOLIA!!!

Ich habe Brasilien und den jeito brasileiro nach drei Monaten im Land nun doch schon etwas kennengelernt, und deshalb weiss ich, dass die Brasilianer gerne feiern. Am liebsten und ausgelassensten den Carnaval. Für viele hier ist der nämlich das wichtigste Ereignis des Jahres, besser als Geburtstag, Ostern und Weihnachten zusammen, so besonders wie eine fünfte Jahreszeit. Am ehesten können das in der Schweiz wohl noch die Basler verstehen, mit ihren drey schenschte Dääg. Für eine Züri-Tussi hingegen ist Fasnacht eher ein Fremdwort. Den alljährlichen Umzug in der Zwingli-Stadt habe ich noch nie besucht, und um die paar wenigen närrischen Anlässe mache ich jeweils einen gaaaaaanz grossen Bogen. Mit besoffenen Cowboys und lallenden Clowns, mit Confetti und diesem lästigen Sprühschaum, der trocknet, sobald er aus der Dose kommt, kann man mich jagen! Und zu meiner Schande muss ich gestehen: auch an der Basler Fasnacht war ich noch nie. Denn ich habe einfach eine tiefliegende Abneigung gegen diese Feiertage. Irgendwie habe ich immer das Gefühl, sie werden ja eh nur zum Anlass genommen, mal einmal im Jahr völlig schamlos saufen, kindisch und unverschämt sein zu können. In einem albernen Kostüm erkennt einen schliesslich niemand. Dazu kommt, dass die Fasnacht in der Schweiz im Winter ist, und ich kann Kälte nicht ab. Was soll ich da am Strassenrand stehen, dick eingemummelt, mit roter Nase (auch ganz ohne Schminke), und zitternd ausharren, bis auch noch die letzte Guggenmusik an mir vorbeigezogen ist? Nicht mit mir!
Für die Brasilianer hingegen ist der Carnaval eine Lebenseinstellung, die pure folia, ein Anlass, den Ernst und die Probleme des Alltags mal hinter sich zu lassen, fröhlich zu sein und einfach das Leben zu feiern - und das Beste: er ist im SOMMER! Ausserdem gilt der Carnavel do Brasil als das grösste Volksfest der Welt, vor allem der in Rio, mit seinem farbenfrohen und ziemlich freizügigen desfile der Sambaschulen. Gründe genug also, um dem Karneval hier eine Chance zu geben. Und auch wenn ich ihn umgehen WOLLTE; das ist schlicht unmöglich, ausser man verkriecht sich vielleicht irgendwo im Regenwald. Aber wer im Februar/März durch Brasilien reist, ist selber schuld!

Das wird mir so einen Monat vor Beginn der offiziellen Karnevalswoche denn auch schlagartig bewusst: Meu Deus, dieses Land wird schlicht und einfach stillstehen!!! Vielleicht sollte ich mir endlich überlegen, wo ich das Fest der Fester verbringen wollte, um nicht irgendwo im Nirgendwo festzusitzen! 
Ich entscheide mich also für Recife, denn die Stadt im östlichen Bundesstaat Pernambuco liegt sowieso auf meiner Reiseroute. Und ausserdem habe ich gelesen, dass der Carnaval in Recife als heimlich bester Brasiliens gilt. Er ist nämlich sehr traditionell, hat einen der grössten Strassenparaden der Welt und ist ein Karneval für jede und jeden. Das heisst, man muss nicht Hunderte von Reais für ein camarote (VIP-Tribüne) oder das Sambódromo bezahlen, damit man vom interessanten Geschehen überhaupt was mitbekommt, so wie das in Rio oder Salvador der Fall ist. Nein, man geht einfach auf die Strasse und kriegt das ganze Spektakel gratis geboten.
Ich suche also nach einem Hostel in Recife - error, alles ausgebucht. Ein Hotel vielleicht? Fehlanzeige. Pousada oder so? Nix. Alles schon weg. Tja, ich hab's wohl wieder mal verschlampt. Ich versuche es also mit airbnb.com, einem Online-Portal, auf welchem Einheimische ihre Wohnungen, Häuser oder Zimmer vermieten. Dort werde ich fündig, und von der etwas mässigen Bleibe in Maceió wechsle ich in ein sehr grosses, schönes Haus im Zentrum Recifes, das seine Besitzerin reich geschmückt hat mit allerlei Krimskrams von überall aus der Welt. Sie, nur ein bisschen älter als ich, ist nämlich eine richtige Weltenbummlerin. 66 Länder hat die Brasilianerin schon besucht, Wahnsinn! Und sie ist auch tatsächlich ein bisschen verrückt, aber genau so, wie ich das mag, nämlich so wie ich (ok, oder ein bisschen mehr). Ich bin von Anfang an begeistert von ihr! Sie fährt mich und die anderen Gäste in ihrem Haus (ich teile mir ein Zimmer mit drei Brasilianern) ganz selbstverständlich in der Stadt herum, wir besuchen sehr coole Restaurants und trendy illegale Bars. 
Ich und eine brasilianische Mitbewohnerin freunden uns mit einem Paar aus London an, das ebenfalls im Weltenbummler-Haus untergekommen ist. Und das will sich unbedingt Kostüme für Karneval besorgen. Oh nein!! Ich hatte gehofft, diesen Teil der Tradition umgehen zu können! Aber ehe ich mich versehe durchstöbern wir zu viert Recifes Fasnachtsläden und Märkte. Perrücken, Masken, farbenfrohe Roben, absurde Hüte - so Verkleiderlis macht eben schon schaurig Spass! Aber auf keinen Fall will ich mir jetzt noch ein ganzes Kostüm zutun, denn in meinem Rucksack hat es um Gottes Willen einfach keinen Platz mehr! Jetzt ist aber endgültig fertig Shopping, porra! 
Aber um nicht die totale Spielverderberin zu sein, entscheide ich mich nur für eine fantasia light, einen bunten Haarschmuck aus Plastikblumen und Federn und dazu ein paar Federohrringe (die Verkäuferin schwor mir, die kämen von einem Ara aus dem Urwald, ich hoffe aber sehr, er musste dafür nicht sterben!!). 
Die anderen versorgen sich mit pinken Perrücken, Früchtekörben für auf den Kopf und ähnlich Dämlichen, und ich musse schliesslich zugeben: so können wir uns ganz gut sehen lassen in der Folia auf der Strasse.

Die Feuerprobe für unsere Roben ist am Samstagmorgen. Dann wird in Recife nämlich der eigentliche Karneval eingeläutet, mit dem sogenannten Galo da Madrugada. Das ist der Name des grössten blocos in der Stadt. Blocos sind das Herz des Carnavals in Brasilien, sie sind so eine Art Fasnachtsgesellschaften, bestehend aus Bands, Tänzern und zahlreichen Anhängern. Am Samstagmorgen also (obrigada, hier muss man also auch noch früh aufstehen, um zu feiern) gehen wir, die Engländer, die Brasilianerin und ich, in unserer albernen Aufmache zum Startpunkt des grossen Umzugs.
 Was uns dort erwartet, ist eine Mischung aus Streetparade und Zürifäscht, einfach noch etwas voller und vor allem HEISSER!! Man muss unbedingt einen Schattenplatz im Getümmel ergattern, weil sonst stirbt man an einem Hitzschlag!! Und bloss nicht die Sonnencrème vergessen, sonst kann man gleich als Krebs an die Fasnacht! Zum Glück gibt es zahlreiche Stände und fliegende Händler, bei denen man sich Getränke besorgen kann, denn bei der ganzen Schwitzerei kann man gar nicht genug trinken. Auch gegen den Hunger ist gesorgt: ganze Bäume aus Zuckerwatte werden vorbeigetragen oder säckeweise Nüsse und sogar kleine Eier (igitt!).
Die Narren ziehen auf riesigen, geschmückten Lastwagen an uns vorbei. Darauf spielen Live-Bands mit Sängern, Bläsern, Gitarristen und Schlagzeugern. Die Musik, meistens der für Pernambuco übliche Fastnachtsstil Frevo (der dazugehörige Tanz erinnert an eine Mischung aus Akrobatik und Eurythmie, dazu werden kleine Schirmchen geschwungen, das Ganze scheint sehr anstrengend zu sein), wird durch gigantische Lautsprecher verstärkt. Natürlich bleiben die Wagen öfters mal im Stau stecken, denn das gehört sich einfach so im brasilianischen Strassenverkehr. 
Einmal bahnt sich ein Rettungswagen seinen Weg durch die Menge, die Sirene dröhnt, dass es einem in den Ohren wehtut. Er kommt ungefähr einen Meter pro Minute voran. Wer auch immer den Wagen benötigt hat - ich fürchte, er ist schon längst tot...
Ob man will oder nicht, am Galo da Madrugada muss man ausharren, bis der grösste Teil der Wagen an einem vorbeigezogen ist, denn man steht so dicht gedrängt im Getümmel, dass die Flucht unmöglich ist. Ich weiss gar nicht mehr genau, wie wir es nach Hause geschafft haben, aber wir müssen uns dort erstmal ein paar Stunden erholen.
Danach geht es nach Olinda, ein schmuckes Städtchen grad neben Recife, total karnevalsverrückt. Dort geht das Gedränge, Geschiebe und Geschubse gleich weiter, unglaublich, diese Menschenmengen! Es ist kaum möglich, sich von A nach B zu verschieben. Aber das muss man eigentlich auch nicht, denn das machen schon die Blocos. Wo immer sie auftauchen und ihre Karnevalshmymnen spielen (ich kann sie immer noch auswendig: "Ei, pessoal! Vem, moçada! Carnaval começa no Galo da Madrugada!" oder "É tão gostoso, quando eu ranranranranranranran o lepo lepo" - nein, keine Sau weiss, was das bedeuten soll...), dann tanzt und singt die Menge begeistert mit. Dazu werden die riesigen bonecas durch die Strassen getragen, überlebensgrosse Puppen, die ich irgendwie ein bisschen unheimlich finde. Und die Männer, die unter ihnen stecken und sie so zum Leben erwecken, tun mir dazu noch leid, das muss echt verdammt heiss und schwer sein!
Apropos Verkleiden: ich habe ja wirklich eine Menge lustiger Fantasias gesehen. Hübsch finde ich zum Beispiel den Arzt, der gratis Prostata-Untersuchungen anbietet. Oder den katholischen Pfarrer mit einem Baby auf dem Arm. Oder auch das gealterte Garota de Ipanema.
Doch mein absoluter Favorit ist und bleibt Sharky, mein brasilianisches Zimmergspändli. Ich weiss nicht, ob er seinen Spitznamen vor oder nach dem Carnaval 2014 verpasst bekommen hat, aber jedenfalls verkleidete er sich als muskulöser Surfer, der gerade von einem Hai gefressen wird - ganz grosses Kino!! Und passend für Recife, schliesslich soll man dort nicht im Meer schwimmen, weil es tatsächlich immer wieder Hai-Attacken gibt. Sharky muss für unzählige Fotos mit Unbekannten posieren, aber das macht er gern, denn sein einziges Ziel am Karneval ist es, soviele Frauen wie möglich - ähm - kennenzulernen. 
Übrigens, wenn wir schon beim Thema sind: Verhütung wird im katholischen Brasilien ja allgemein eher totgeschwiegen. Ausser im Karneval. Da wird plötzlich auf Plakaten, Flyern und anderen Werbeträgern darauf hingewiesen, man solle doch bitte Kondome benützen. Wie jetzt? Nur während der Fasnacht, sonst soll man das ganze Jahr über ohne, weil Gott es so will? Schon ein bisschen heuchlerisch.
Aber zurück zu Olinda. Kurz: es ist verdammt anstrengend, und wenn man es dann auch von hier irgendwie geschafft hat, wieder nach Hause zurückkommen, dann fällt man nur noch ins Bett und schläft wirklich tief und gut. Und ehrlich gesagt denke ich nach diesem ersten Tag Karneval in Recife: wie um Gottes Willen soll ich das eine ganze verdammte Woche lang durchhalten??!! É uma locoura isso!!
Aber der Karneval ist gnadenlos, und auch vor unserem Haus steht eine Bühne und feiern die Menschen mit nicht enden wollendem Elan. Es gibt kein Entrinnen, man muss wohl oder übel mitmachen bei dieser durchgeknallten Folia. 
Am besten gefällt es mir dabei im Stadtteil Recife Antigo, denn dort finden auf riesigen Bühnen Gratiskonzerte statt - und zwar von bekannten brasilianischen Künstlern. Ok, ich kenne zwar nur einen von denen (Gilberto Gil, und ehrlich gesagt auch nur den Namen), und den habe ich auch noch verpasst, weil es wie gesagt verdammt schwierig ist, während des Karnevals in Brasilien seinen Standort zu verschieben. Aber den mitgrölenden und mittanzenden Menschenmassen nach zu urteilen, müssen da wirklich ganz grosse Nummern auf der Bühne stehen.
Leider kommt dann aber doch noch ein Dämpfer, der zeigt, dass die Fasnacht halt eben doch nicht nur lustig und lieb ist: meiner neuen brasilianischen Freundin wird im Getümmel das Handy aus der Tasche gestohlen. Man wird ja immer wieder gewarnt, dass gerade am Karneval viele Taschendiebe unterwegs seien, deshalb am besten gar nichts mitnehmen, nur etwas Geld in den BH und so. Ich halte mich zwar auch nicht immer daran, aus reiner Eitelkeit, bin aber froh, habe ich mein iphone dieses Mal zu Hause gelassen. Und das freut auch die Brasilianerin, denn sie meint, zum Glück sei SIE beklaut worden und nicht wir Gringos, denn schliesslich sollten wir doch nur die schönen Seiten des Landes kennenlernen. 
Wow, ich staune immer wieder über die Gelassenheit der Brasilianer! Was auch immer passiert, sie lassen sich nicht aus der Ruhe bringen und schon gar nicht die Freude verderben. Ich muss sagen, so edel bin ich leider nicht. Oder habe ich damals gedacht, als mein Velo in Zürich vor der Haustür gestohlen wurde: Oh, zum Glück mir und nicht meinem Nachbarn?
Nope!!!

Ok, nach drei Tagen Carnaval sind wir schliesslich ziemlich müde. Ich mag keinen Frevo mehr hören, ich mag keinen besoffenen, 20-jährigen Brasilianern mehr erklären, dass sie mich NICHT einfach so küssen dürfen und dass ich sie verarscht hatte, als ich behauptete, ich käme aus São Paulo (ok, sie waren zwar auch immer schon von Anfang an misstrauisch: "Mas você tem muito cara de gringa!", aber ich wollte nicht dauernd als Deutsche oder Amerikanerin abgestempelt werden) und ich und mag meine Blumen und Federn nicht mehr sehen. Ich und die Brasilianerin beschliessen also, die Flucht anzutreten, koste es, was es wolle.
Wir steigen in einen Bus nach Porto de Galinhas, einem kleinen Ferienort rund eine Stunde von Recife entfernt (mit Stau sind es dann fast drei Stunden). Dort gibt es einen sehr malerischen Strand, wir wollen einfach mal etwas machen, was nichts mit Fasnacht zu tun hat.
Wir und Hunderte andere auch. Porto de Galinhas ist übervoll, der Strand drum nicht mehr so schön, und tatsächlich ziehen auch dort noch ein paar Blocos vorbei. Aber wir liegen trotzdem zufrieden mit unserer coco in der Sonne, denn wenigstens müssen wir mal niemandem auf den Füssen rumtrampeln und können endlich wieder etwas anderes essen als frittierte coxinhas an irgendeinem Stand...

Als die Folia schliesslich vorbei ist (Gott, die Woche war echt lang!), sind irgendwie alle ein bisschen erleichtert. Mann kann halt doch auch nicht immer nur feiern, sogar das wird irgendwann langweilig (also, allen ausser Sharky). 
Recifes antikes Zentrum scheint jetzt wie ausgestorben. Kein Mensch ist auf der Strasse, ausser einige Putzequipen, die die letzten Spuren des Karnevals beseitigen. Nichts deutet mehr auf das Gedränge hin der letzten Tage, oder auf die Blocos und die unzähligen Stände mit Skol-Bier (wohl der Sponsor des Recife-Karnevals). Im Weltenbummler-Haus sind die meisten schon wieder ausgezogen, auch Sharky. Es ist richtig einsam geworden hier und irgendwie herrscht Katerstimmung, die aufs Gemüt drückt. Also auch Zeit für mich, weiterzureisen. Jetzt ist es ja wieder einfach, sich zu verschieben.

Freitag, 28. Februar 2014

Relaxe!

Es musste ja mal noch was schiefgehen. Ich meine, bisher war auf meinem Brasilien-Trip alles so total rund gelaufen, ich bin selber überrascht. Alle Busse, die ich gebucht hatte, fuhren, alle Flugzeuge flogen, die Schule hatte geklappt, ich wurde noch nie überfallen oder bestohlen, verlor den Pass nicht, war nie ernsthaft krank, hatte keinen Unfall, keine Kakerlaken im Bett der Pousada, und alles, was ich plante wurde auch tatsächlich umgesetzt. Kurz: alle befürchteten Pleiten und Pannen, die einem auf einer Reise gerne mal das Leben schwermachen, waren bisher ausgeblieben.
Bisher.

Denn schon in Salvador de Bahia bahnte sich das Unglück an: Ich steige in den Nachtbus nach Maceió und bin erstens wieder einmal schwerst depressiv, denn dieses ewige Abschiednehmen geht mir doch extrem an die Nieren. Erst tschüss, minha familia brasileira in Rio, dann tschüss, neue schwedische Freundin in Foz do Iguaçu (zum zweiten Mal) und dann auch noch tschüss, primo in Salvador. Macht´s gut, bis irgendwann, keine Ahnung, wann und ob ich euch wiedersehen werde. So ein Mist, ehrlich! Eu odeio despedidas!!
Zweitens trägt der Nachtbus nicht gerade zu einer besseren Laune bei. Ich weiss einfach nicht, warum es in öffentlichen Verkehrsmitteln, in denen man länger als eine Stunde zubringt, immer so verdammt kalt sein muss!! Ist die voll aufgedrehte Aircondition eigentlich im Ticketpreis inbegriffen? Dann verlange ich Geld zurück. Sollen die 2 Grad drinnen von den 32 Grad draussen ablenken? Danke, gelungen, aber beides ist unerträglich! Will man demm mit aller Gewalt verhindern, dass sich die Leute wohlfühlen in ihren Sitzen? Sollen sie etwa auf keinen Fall einschlafen??
Nun, für mich ist das aber genau der Sinn eines Nachtbusses: die Reisezeit verschlafen, anstatt sich tödlich zu langweilen. Aber da ich leider kein Eisbär bin, fällt es mir ziemlich schwer, mich in der Antarktis zu entspannen. Ergo bleibe ich zehn Stunden ohne Schlaf, und meine Laune rutscht noch tiefer in den Keller. 
In Maceió angekommen, will ich nur noch in ein Taxi und in mein Hostel - ja, tatsächlich, ich hatte es geschafft, noch einen Tag vor meiner Abreise eine Unterkunft zu buchen, worauf die superspontane und unorganisierte Züri-Tussi mächtig stolz ist! So stolz, dass sie den drei englischen Mädchen Anfang 20, die im selben Bus mitgefahren sind, vorschlägt, doch gleich mitzukommen. Denn die sind noch spontaner und unorganisierter als ich und haben somit noch keine Ahnung, wo sie die Nacht verbringen sollen (ausser, dass es nicht wieder in einem saukalten Bus sein soll). 
Aber die unangenehme Anreise war nur ein schlechtes Omen für all das, was noch kommen sollte. Denn als ich am Taxistand beim Busbahnhof sage, wohin ich will, werden nur Stirnen gerunzelt und Schultern gezuckt. Das geht so weit, dass schliesslich sämtliche Taxifahrer vor Ort über meinem iphone stehen, auf welchem ich die Buchungsbestätigung mit der Adresse aufgeschaltet habe. Nein, dieses Hostel kennen sie nicht, keine Ahnung. Ja, sage ich, vielleicht ist es ja neu, aber ich habe ja die exakte Adresse, wieso fahren wir nicht einfach dahin? Aber niemand hat je von diesem Hostel gehört, wird mir entgegnet. Aber ihr wisst, wo diese Strasse ist? Ja. Então, gente, vamos pra lá, qual é o problema?? Nein, zuerst noch die Zentrale anfunken. Oh, die hat auch keine Ahnung. Nein, dann können wir nicht abfahren.
CARALHO!!!
Ich muss mich mächtig zusammenreissen, um nicht ausfällig zu werden! Herrgott nochmal, ich habe keinen Bock, nach einer Nacht im Tiefkühler mit brasilianischen Taxifahrern darüber zu fachsimpeln, ob dieses Hostel nun tatsächlich existiert oder nur eine Illusion ist!! Und schon gar nicht mit einem drei Tonnen schweren Rucksack am Rücken und einem Ein-Tönner vor der Brust (wie war das noch? Ich wollte auf meiner Reise an Gepäckgewicht verlieren und nicht zulegen? Ok, vielleicht sind doch nicht GANZ alle Pläne aufgegangen...). Fahren wir jetzt einfach dahin und schauen halt nach, viu??!!
Die drei Britinnen sind schon misstrauisch geworden, ich übersetze ihnen meinen Streit mit den Herren. Vielleicht doch lieber auf eigene Faust ein Hostel suchen? Nein nein, beschwichtige ich. Meines hat tolle Referenzen und liegt nahe am Strand, ich hab´s doch im Internet gesehen! Und das lügt nicht!
Endlich "opfert" sich einer der Taxifahrer und verstaut unsere Baggage im Kofferraum. Wir dürfen einsteigen.

Gut, wir fahren also zu der angegebenen Adresse. Die existiert auch, alles gut. Nur, an der besagten Strassennummer befindet sich kein Hostel. Es sieht mehr wie der Eingang eines Privatgrundstückes aus, keine Beschriftung, keine Name, nichts, nur eine grosse weisse Tür, umgeben von einer hohen Mauer. Keine Ahnung, was dahinterliegt. Jedenfalls ist es totenstill. Klingt nicht gerade nach populärer und ausgebuchter Herberge.
Ich gehe zur Türklingel. Tatsächlich, da prangt ein klitzekleiner Aufkleber mit dem Logo meines gebuchten Hostels daneben. Schreibt man neuerdings so eine Touristenunterkunft an? Ist das moderne Werbung oder was??
Ich klingle. Dreimal, viermal, fünfmal. Nichts. Ok, es ist früh am Morgen, aber auf der Website hatte das Hostel eine 24-Stunden-Reception angepriesen. 
Ähää!
Es nützt alles nichts. Niemanden scheint mein Sturmläuten zu interessieren. Gibt es dieses Hostel oder nicht? Ich werde es wohl nie herausfinden, denn ich habe nicht vor, es noch einmal zu kontaktieren, geschweige denn, zu bezahlen.
Ich und die Britinnen sitzen wieder ins Taxi und lassen uns zu einem anderen Hostel chauffieren, das wir so auf die Schnelle im Lonely Planet gefunden haben. Das ist nun tatsächlich gross, klar und deutlich angeschrieben, aber auch hier reagiert niemand auf unser Klingeln. Vielleicht doch noch zu früh? Und es ist ja erst noch Sonntag. Wobei: das sollte einem Hostel doch eigentlich egal sein, das kennt kein Wochenende, oder?
Wir beschliessen, erstmal frühstücken zu gehen und ein bisschen Zeit verstreichen zu lassen, denn wir sind müde und hungrig und scheisse gelaunt. Ein bisschen Koffein würde uns hoffentlich wieder Mut machen. Und irgendwann MUSSTE ja wohl irgendwer in dieser Stadt aufwachen, oder etwa nicht?? Ich versuche, Maceió nicht schon von Anfang an zu hassen... Relaxe, moça, relaxe! Entspann dich, Mädchen!

Das einzige Café, das bereits geöffnet hat, befindet sich an einer Tankstelle. Nicht grad romantisch, aber wenigstens mit Zmorgenbuffet und richtigem Cappuccino. Langsam geht´s mir wieder etwas besser. 
Wir fragen den Kellner, wann hier denn an einem Sonntagmorgen die Hotels und so aufmachten. Also, die Receptionen müssten jetzt eigentlich schon längst besetzt sein, meint er.
Eine der Britinnen macht sich nach rund anderthalbstündiger Verschnaufpause deshalb auf, zurück zum letzten Hostel. Wir warten. 
Und warten. 
Langsam machen wir uns Sorgen. Hat sie sich etwa verlaufen? Oder bezieht sie schon erleichtert unsere Betten?
Nichts von alledem, sie kommt zurück und berichtet uns, dass sie zwar Leute im Gebäude höre, aber niemand auf ihr Klingeln und Rufen reagiere. Und auch das andere Hostel gleich nebenan mache keinen Wank.
Puta que pariu! 
Schön, gibt es neben dem guten Buffet in unserem Café auch noch wifi! So können die jungen Mädels und ich online nach einer Alternative zum Übernachten forschen. Ich merke aber schon bald, dass wir uns bei diesem Thema nicht so ganz einig sind. Die drei wollen so wenig wie möglich für ihr Bett ausgeben, ich fühle mich aber längst aus dem Alter raus, in welchem ich noch in Zehner-Schlägen auf dreckigen Laken und Läusen liegen möchte. Ich weiss, mit Anfang 20 fehlt eben noch das Geld für bessere Optionen, so ging es mir damals auch. Aber wenn man mit Mitte 30 reist, dann hat man sich doch langsam ein kleines Bisschen Luxus verdient, nicht wahr? Also zum Beispiel ein Einzelzimmer anstatt einen Massenschlafsaal.
Egal, wir einigen uns auf eine Bleibe und schultern unsere Rucksäcke. Natürlich wollen wir zu Fuss dahingehen, schliesslich soll auch beim Geld fürs Taxi oder den Bus gespart werden.
Gut. Wir laufen und laufen. Irgendwie ist das Hostel eben doch weiter weg als auf googlemaps nachgeschaut. Unterwegs passieren wir verschiedene Pousadas. Und siehe da: die haben sogar geöffnet! Ich frage in jedem nach freien Betten und den Preisen. Aber den Britinnen passt nie eine der Optionen. 
Schliesslich habe ich die Schnauze voll, mein Rücken schmerzt vom Schleppen, ich bin schwitzig, unausgeschlafen, ungekämmt und ungehalten. Bei der nächsten Pousada mit einigermassen annehmbaren Konditionen trennen sich die Wege von mir und den Girls, ich bleibe.
Mein Zimmer ist ok. Blick vom Fenster auf eine Hauswand zwar und Röhrenfernseher mit nur drei wackligen Kanälen und ohne Fernbedienung. Und wenn man duscht, setzt man das gesamte Bad unter Wasser, weil es keine Wanne gibt.
Aber dafür eine Air Condition (hier kann ich die Temperatur ja schliesslich auch selber bestimmen!), ein sauberes Bett, einen kleinen Kühlschrank und eine ziemlich zentrale Lage. Das Frühstück wird jeweils neben der Reception serviert, während dort das Personal in aller Lautstärke die Morgennachrichten guckt.
Ich beginne langsam, Maceió zu mögen. Und hoffe, dass dieser kleine Zwischenfall eine einmalige Einlage bleibt, sozusagen die Ausnahme von der Regel, die Anekdote, die man zu Hause dann seinen Freunden und der Familie erzählt und dabei herzlich darüber lacht.
Haha.

Maceió ist die Hauptstadt des brasilianischen Bundesstaats Alagoas an der Ostküste und zählt rund eine Million Einwohner. Ich habe im Vorfeld mal eine Reportage gesehen, in der Maceió als gefährlichste Stadt Brasiliens bezeichnet wurde und sogar als drittgefährlichste der Welt (an Platz 1 und 2 kann ich mich leider nicht mehr erinnern). Sehr hohe Mordrate, viele Drogen, Überfälle und so. 
Nun, von alledem habe ich zum Glück nichts mitbekommen. Meiner Meinung nach hat der Ort eigentlich nur ETWAS Aufregendes zu bieten: wunderschöne Strände mit türkisblauem Wasser. Ansonsten ist Maceió eher etwas gähn, nach meinem Geschmack.
 Vielleicht ist das auch der Grund, warum ich mich dazu hinreissen liess, eine Bustour zu den abgelegenen Stränden der Gegenden zu buchen. Naja, ich bin ja wie bereits schon erwähnt kein Fan von diesen supertouristischen, ultraorganisierten Gruppendingen, aber das Ticket war spottbillig und ich dachte, dass sei der einfachste Weg, an diese Orte zu gelangen. Aber als im Minibus der Chauffeur plötzlich sein Funkmikrofon einschaltete und von paradas de quince minutos pra tirar fotos zu labern begann, wollte ich weinen.

Naja, ich hab´s überlebt und mir geschworen, nie wieder eine solche Dummheit zu begehen. Ich konnte in Maceió also ein paar Tage nichts anderes tun, als mich zu entspannen. Was auch sein Gutes hat, denn schliesslich steht als nächstes der berühmte und wilde Carnaval an...