Wenn man Portugiesisch lernt, dann stösst man früher oder später auf saudades. Das Wort lässt sich wohl am besten übersetzen mit "vermissen" oder "fehlen". "Du fehlst mir/ich vermisse dich": Eu estou com saudades de você.
Aber das Portugiesische beschreibt dabei das Gefühl an sich und nicht bloss die Handlung, so wie das andere Sprachen machen ("I miss you", "Te extraño"). Saudades ist das, was man dabei EMPFINDET, wenn man etwas vermisst, wenn einem jemand fehlt. Da gibt es wohl kein deutsches Pendant dazu, vielleicht am ehesten "Sehnsucht", aber auch das trifft es nicht ganz. Saudades ist und bleibt eine idiomatische Eigenheit des Portugiesischen. Kein Wunder: Leidenschaftlich und gefühlsbetont wie die Brasilianer sind, muss sich das wohl auch irgendwie in ihrer Sprache niederschlagen.
Am Anfang meiner Reise hat mir mal jemand gesagt: Wenn du verstehst, wie saudades sich anfühlt, dann verstehst du auch die Brasilianer.
Und ja, tatsächlich, je näher das Ende meines viermonatigen Abenteuers rückt, desto mehr verstehe ich…
Meine letzten Tage in Brasilien verbringe ich in Fortaleza, der Hauptstadt des Bundesstaats Ceará, im Nordosten des Landes.
Ein Paradies für Surfer mit und ohne Segel, denn die Windverhältnisse sollen an Fortalezas Stränden besonders günstig sein (ich verstehe leider nichts davon, ich habe in meinem Leben nur eine einzige Surfstunde genommen und dabei literweise Salzwasser geschluckt, so dass ich diesen Sport wie auch die meisten anderen wieder aufgab). Aber ich komme nicht wegen der Wellen hierher, sondern erstens, weil hier mein Flug zurück nach Zürich geht und zweitens, weil ich hier eine Freundin wiedertreffen will, die ich in Recife kennengelernt hatte. Wir erinnern uns: Es ist die Brasilianerin, deren Handy im Karnevals-Wirrwarr geklaut wurde (jaja, gemeinsame Erlebnisse schweissen aneinander). Sie ist Ärztin und in Fortaleza aufgewachsen. Sie kennt die Stadt deshalb wie ihre Westentasche und weiss genau, wo eine Züri-Tussi noch ihre letzten brasilianischen Pflichtaufgaben erledigen kann: es geht also zum Cabelereiro (die Behandlung hiess ohne Scheiss Botox capilar, es ging aber ganz ohne Spritze und meine Haare waren hinterher auch nicht gelähmt, sondern schön gesund und glänzend), zur Depilação (habt ihr euch schon mal ohne Narkose am offenen Herzen operieren lassen? Nein? Ich auch nicht, aber so fühlt sich dieses Brazilian Waxing an!!!) und zu den schmackhaftesten und riesigsten Tapiocas meines Lebens (wie war das noch mit dem brasilianischen Bikini? Den kann ich jetzt aber ganz hinten im Schrank versorgen!).
Dazwischen trinken wir Cerveja und Caipirinha am Strand und fahren mit dem Boot der schönen Küste entlang und fotografieren den Sonnenuntergang, die Ärztin hat sich nämlich extra für mich freigenommen.
Aber wer nach Fortaleza geht, der muss auch nach Jericoacoara gehen. Ok, das klingt jetzt so, als läge dieses Dörfchen gleich nebenan, aber so ist das nicht. Vier Stunden mit dem Bus weiter nördlich und dann noch anderthalb Stunden auf so einer Art Lastwagen mit Plastiksitzen, denn der letzte Rest des Weges führt über Sand und den Strand entlang, das schafft kein herkömmlicher ÖV. Aber es sollte niemand mit Rückenproblemen oder Schleudertrauma auf diesen Laster steigen - obwohl, es kommt eigentlich nicht drauf an, denn wenn man die Leiden vorher nicht hatte, hat man sie eh hinterher, so sehr holpert und ruckelt es während der Fahrt.
Jericoacoara ist neben Pipa ein weiterer kleiner Hippie-Ort, aber diesen empfinde ich nun wirklich als magisch. Das ehemalige Fischerdorf liegt inmitten von Sanddünen und an einem malerischen Strand, es kommt mir ein bisschen vor wie eine Oase in der Wüste. Überhaupt wähnt man sich eher in der Sahara denn in Brasilien, denn man geht den ganzen Tag nur auf Sand.
Und natürlich ist auch hier alles total légère und alternativ, man trägt Batik-Klamotten, ist tätowiert, kifft und verkauft selbst gebastelte Schmuckstücke. Überall wimmelt es von streunenden Hunden aller Rassen (mein Liebling war der Dackel, dessen viel zu kurze Beine nun so gar nicht gemacht waren für den ganzen Sand), die die Gäste in den Restaurants mit den treusten Blicken anbetteln oder ausgelassen am Strand toben und sich dabei auch mal erschöpft in den Schatten eines Sonnenschirms legen, obwohl es dort eigentlich gar keinen Platz mehr gäbe.
Ausflüge macht man auch hier mit dem Buggy. So erreicht man die hübschen Binnenseen, die entstehen, wenn sich das Regenwasser in den Dünen sammelt. Das seichte Wasser dort ist perfekt, um sich auf einem Stuhl oder einer Hängematte hineinzusetzen und die Seele baumeln zu lassen.
Am Abend versammeln sich alle am Strand und steigen dort auf eine hohe Sanddüne, um den Sonnenuntergang zu beobachten.
Ja, immer diese Sonnenuntergänge, ich weiss. In Brasilien sind sie halt einfach beliebt! Wo man auch hinkommt, es heisst immer: geh doch dorthin, von dort aus hast du den besten Blick auf den Sonnenuntergang. Und das machen dann auch alle und knipsen mit ihren Kameras und Smartphones drauflos, als ginge die Sonne kein weiteres Mal mehr unter. Es gibt ganze Touren, die sich nur um den Sonnenuntergang drehen, zu Land und zu Wasser. Der Sonnenuntergang wird hier inszeniert und zelebriert. Das merkte ich schon ganz am Anfang in Rio, am Strand von Ipanema. Dort klatschte die Menge jeden Abend, wenn die Sonne im Meer verschwunden war. Naja, ist ja auch eine grosse Leistung, die gewürdigt werden will.
Wie auch immer. Jericoacoara ist jedenfalls der perfekte Ort, um seine letzten Tage in Brasilien zu verbringen und beim pôr do sol so richtig tief in saudades zu versinken.
Oh, und es gibt sehr nette Leute dort. Ich habe es nämlich fertiggebracht, mein nigelnagelneues iphone 5 zu verlieren, und nur Dank eines ehrlichen Finders musste ich nicht noch einmal die Polizei mit ihren schusssicheren Westen und meine Versicherung bemühen…
Tja, und so sehr ich mich auch dagegen sträube, der Tag kommt, an dem mein Flieger Richtung Schweiz startet. Die Ärztin begleitet mich zum Flughafen. Dort will ich deprimiert auf einem Sessel vor dem Gate in einer revista blättern, aber es kommt ganz anders.
Ich möchte gar nicht detailliert ausführen, was in meinen letzten zwei Stunden in Brasilien passiert. Ich habe mich ja schon genug über unendliche Schlangen vor Kassen und das Drehkreuz im Bus ausgelassen. Kurz: es ist einfach mal wieder ein Fall von jeito brasileiro. Ein "Sie-waren-zwar-kurz-in-Argentinien-aber-es-fehlt-der-Stempel-des-brasilianischen-Zolls-also-waren-Sie-drei-Wochen-zu-lange-im-Land-und-müssen-eine-Busse-bezahlen-aber-die-können-Sie-jetzt-grad-nicht-bezahlen-weil-wir-keine-Karten-akzeptieren-und-der-Bankomat-befindet-sich-leider-ausserhalb-der-Abflughalle-da-dürfen-Sie-alleine-nicht-mehr-raus-und-obwohl-hier-fünf-Angestellte-einfach-nur-rumstehen-und-gelangweilt-auf-ihrem-Handy-tippen-haben-wir-leider-zu-wenig-Personal-um-Sie-zur-Bank-zu-begleiten-und-oh-ihre-Freundin-ist-doch-tatsächlich-extra-nochmal-an-den-Flughafen-gekommen-und-hat-Ihnen-das-Geld-gebracht-aber-leider-ist-jetzt-die-Kasse-schon-zu"-Fall.
Aber diesmal gebe ich nicht nach. Ich mache einen riesigen Aufstand und schimpfe und bezeichne alles als piada und incrível und schlage die Hände über dem Kopf zusammen und rolle mit den Augen und seufze EXTRA LAUT. Diesmal nicht, meine Lieben, diesmal gewinne ICH!! Bis zehn Minuten vor Abflug kämpfe ich um diesen doofen Stempel, denn ich bekommen muss, um Brasilien wieder legal betreten zu dürfen - und ICH SCHAFFE ES!!! Stolz, befriedigt und begleitet von zahlreichen Verwünschungen des Fortalezaschen Flughafenpersonals steige ich in meinen Flieger. STRIKE!!!!
Ja, ich verstehe jetzt die Bedeutung des Wortes, weiss, wie es sich anfühlt. Brasil, estou com saudades de você. Nein, Szenen wie die obige werden mir garantiert nicht fehlen, aber sonst alles. Meer, Strand, Samba, Forró, Carnaval, Capirinha, Açaí, Tapioca, Felicidade und vor allem meine familia brasileira und alle meine neuen Freunde, die ich hier kennenlernen durfte - und ohne die ich nur halb so viel erlebt hätte, nur halb so weit im Land gekommen wäre, nur halb so gut gegessen, getanzt und Portugiesisch gelernt und nur halb so viele Hindernissen gemeistert hätte. Estou com saudades de vocês, muito obrigada por tudo!!!
In Salvador da Bahia bin ich mal zu einer Art Priester des Candomblé gegangen (das ist nichts zum essen, das ist eine Religion), er hat mit mir das jogo de búzios gemacht, mir also sozusagen "die Muscheln geworfen". Unter anderem sah er dabei voraus, dass ich nach Brasilien zurückkehren würde, weil ich hier "noch etwas zu erledigen hätte".
Ich hoffe, Muscheln lügen nicht.